Die Weihnachtsfeiern mit Kollegen, Familie und Freunden sind angelaufen. Über Politik redet man lieber nicht. Die Gefahr, den Weihnachtsfrieden zu stören, ist hoch. Ob Ukraine, Gaza, AfD, Corona – die Nerven liegen schnell blank, wenn jemand die etablierte Meinung in Frage stellt. Sechs Personen, die sich in der Friedensbewegung engagieren, sind das Risiko eingegangen, über das Streitthema „Coronakrise“ zu reden. Sie sind überzeugt: Ein friedlicher Dialog zwischen den Meinungsblasen ist möglich. Von Stefanie Intveen.
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Verstehen, ohne einverstanden zu sein
Die Dringlichkeit eines Dialogs über Streitthemen wie beispielsweise die „Coronakrise“ wurde im Oktober auf einer Konferenz der Initiative „Sicherheit neu denken“ in Fulda deutlich. 55 Leute aus Deutschland, Österreich und den Niederlanden diskutierten über Friedensstrategien für ihre jeweiligen Länder. Viele teilten die Überzeugung, dass Deutschland dringend eine starke Friedensbewegung braucht. Dazu müssten Brücken über die Gräben gebaut werden, die es auch in der Friedensbewegung gibt. Sie bestehen immer noch entlang der gegensätzlichen Bewertungen der Coronapolitik 2020 bis 2023. Anstatt auf Lösungen „von oben“ zu warten, ergriffen einige Konferenzteilnehmer selbst die Initiative.
In sechs anderthalbstündigen Online-Gesprächen[1] redete die sechsköpfige Gruppe über ihre Erinnerungen an die Coronakrise und über Fragen wie diese: Ist eine Aufarbeitung notwendig? Sollen sich die Organisationen der Friedensbewegung dafür einsetzen? Was wäre dabei zu beachten? Am Ende der Gesprächsreihe bewerteten die Mitwirkenden die Coronapolitik immer noch unterschiedlich, doch die gegensätzlichen Positionen standen nicht mehr im Vordergrund. Die Teilnehmer waren schon einen Schritt weiter. Sie formulierten ihre Vorstellungen von einem guten gesellschaftlichen Umgang mit kontroversen Themen und entwickelten Wünsche an eine mögliche Aufarbeitung. Was war passiert?
Die Gruppe hatte für ihren Dialog Methoden gewählt, die auch in der Friedensmediation in Konfliktländern eingesetzt werden. Die Teilnehmer begannen mit einem „identitätsbezogenen Dialog“, bevor sie sich „sachbezogen“ äußerten. Die Mediatoren Ljubjana Wüstehube und Dirk Splinter, die diese Unterscheidung 2020 in einem Artikel vorschlugen, erläutern, dass sachbezogene Dialoge „häufig aufgrund mangelnden Vertrauens scheitern“[2]. Das notwendige Vertrauen kann aber durch vorangestelltes Reden über persönlich Erlebtes, über Ängste und Hoffnungen geweckt werden. Deshalb erzählten sich die Teilnehmer zunächst gegenseitig ihre Erinnerungen an prägende eigene Erlebnisse aus der Coronazeit. Die Übrigen hatten die Aufgabe, zuzuhören und die Geschichten nachzuvollziehen. Das Sich-einfühlen-Können in die Erfahrungen, Gefühle, Ängste und Wünsche der anderen Gesprächsteilnehmer wurde mit einer Perspektivwechselübung[3] vertieft, in der es darum geht, zu verstehen, auch ohne einverstanden zu sein.
Um offen miteinander reden zu können, einigten sie sich außerdem auf Vertraulichkeit im Sinne der „Chatham House Rules“, das heißt, dass sie sich gegenseitig versprachen, mit Außenstehenden nur über die Inhalte des Dialogs, nicht über die Teilnehmer zu sprechen.
Eigene Erlebnisse
„Ich hatte schreckliche Angst und war gleichzeitig sehr wütend“, begann Andreas[4] und erläuterte: „Ich kam nach einer lebensbedrohlichen Krankheit aus dem Krankenhaus, und dann – Corona! Ich habe nur gedacht: Ich habe mich da nicht durchgekämpft, um jetzt an diesem verdammten Virus zu sterben!“ Wut und Angst waren auch bei Helma vorherrschende Gefühle: „Mein halbwüchsiger Sohn war vor Beginn der Impfkampagne an Corona erkrankt und hatte danach monatelang Beschwerden. Ich hatte Angst und war wütend darüber, dass wir die Kinder nicht hatten schützen können.“ Brigitte machte sich Sorgen über das erwachsene Kind, das wegen der Impfnachweispflicht seine Arbeit im Gesundheitswesen verloren hatte, und ärgerte sich über die „Abzocke“ beim Verkauf von Masken, fand jedoch die Grundrechtseinschränkungen im Großen und Ganzen angemessen.
Hermann, der die Einschränkungen abgelehnt hatte, berichtete von Unsicherheit, Überraschung und Trauer: „Mein Freund, ein Arzt, war auch gegen die Maßnahmen, ist aber an Corona gestorben.“ Einige erzählten von ihrer Verunsicherung darüber, dass gute Bekannte die Grundrechtseinschränkungen ablehnten. Sie erinnerten sich an ihre Empörung über NS-Vergleiche, die manche Maßnahmenkritiker zogen. Und Julia entsann sich der öffentlichen Berichterstattung: „Ich hatte zu Hause das Gefühl, von den Medien manipuliert zu werden. Als über den Bildschirm ging ‘Wir bleiben zu Hause!’, habe ich mich gefragt: ‘Wer ist WIR?’ Man kann auch ‘Wir ziehen in den Krieg!’ sagen, und so kam es dann ja auch.“
Über die Streitfragen reden
Durch das Anhören der persönlichen Geschichten wussten alle, unabhängig von ihren jeweiligen Meinungen zur Coronapolitik, wie schwer die Coronazeit für den einen oder die andere unter ihnen gewesen war. Als Gruppe fühlten sie sich jetzt bereit für den zweiten Schritt, den „sachbezogenen Dialog“ über Streitpunkte der Coronapolitik. Sie wählten als Ausschnitt aus der komplexen Thematik die Fragen der Schulschließungen und der Kinderimpfungen. Anhand eines Vergleichs der geleakten internen Protokolle des Krisenstabs des Robert Koch-Instituts (RKI) mit öffentlichen Erklärungen des RKI-Chefs Wiehler und des Gesundheitsministers Lauterbach vollzogen sie gemeinsam nach, dass das RKI die Öffentlichkeit offenbar über wichtige wissenschaftliche Erkenntnisse und Kontroversen im Unklaren gelassen hatte.
Die Teilnehmer verzichteten darauf, die Sachlage abschließend klären zu wollen. Sie nahmen für den Zweck ihres Dialogs an, dass das RKI die Öffentlichkeit nicht angemessen über das Für und Wider von Schulschließungen und Kinderimpfungen informiert hatte. Daraus entstanden wie von selbst Ideen, wie man es hätte besser machen können. Einvernehmlich forderte der Gesprächskreis, kontroverse Fachdiskussionen sollten auch kontrovers in der Öffentlichkeit geführt werden und öffentliche Diskussionen sollten „als gut moderierte Streitgespräche, mit fairen Regeln“ in einer angemessenen Gesprächskultur stattfinden. Andersdenkende sollten nicht „verunglimpft“ und Diskussionen nicht „abgewürgt“ werden. Eine gute Fehlerkultur wäre notwendig:
„Man kann auch einmal zugeben, dass man eine Sache gerade nicht weiß. Dann kann das bei der Gegenseite bewirken, dass sie an bestimmten Stellen auch ihre Ratlosigkeit zugibt. Und das kann beide Seiten verbinden.“
Wirtschaftliche oder politische Macht sollte die öffentliche Diskussion nicht behindern, Minderheitsmeinungen sollten zu Wort kommen.
Mit Leichtigkeit gemeinsame Wünsche formulieren
Mit Leichtigkeit einigte sich die Gruppe auf Wünsche, die sie für eine mögliche Aufarbeitung der Coronakrise hatte. Es ging ihnen um Transparenz über Regierungsentscheidungen, etwa, wer wann auf welcher Grundlage was entschieden hatte oder welche Regierungsmitglieder Zugang zu den RKI-Protokollen hatten. Man müsse einkalkulieren, dass eine Behördenleitung nicht immer das an die Öffentlichkeit weitergibt, was intern bekannt ist. Eine Teilnehmerin fragte verallgemeinernd: „Wie zuverlässig sind Aussagen von Behördenleitungen und Regierungsmitgliedern? Wie steht es mit der Wahrheit in der Politik?“ Auch sollten sich die an einer möglichen Aufarbeitung Beteiligten an die Regeln einer guten Gesprächskultur halten und sorgfältig mit der eigenen Sprache umgehen. Interessenkonflikte, die beispielsweise durch den Besitz von Pharma-Aktien entstehen könnten, wären offenzulegen.
Der kleine Gesprächskreis der Initiative „Sicherheit neu denken“ führte mit Methoden aus der Friedensmediation einen konstruktiven Dialog über die Coronakrise. Erfolgsentscheidend dafür war, dass die Beteiligten sich Zeit nahmen, zunächst ihre persönlichen Erfahrungen und die damit verbundenen Gefühle, Ängste und Wünsche kennenzulernen. Das versetzte sie in die Lage, über die eigentlichen Sachfragen reden zu können. Sie diskutierten beispielhaft einige Aspekte der Coronapolitik und hatten keine Mühe, gemeinsame Empfehlungen für eine mögliche Aufarbeitung der Coronakrise sowie für den Umgang mit kontroversen Themen in der Friedensbewegung und der Gesellschaft insgesamt zu entwickeln.
Der Gesprächskreis hatte sich selbst mandatiert, bestand aus Laien und beschäftigte sich nur mit einem kleinen Ausschnitt der umkämpften Fragen. Doch er zeigte, dass lagerübergreifender Dialog möglich ist und Ergebnisse hervorbringen kann, mit denen man Brücken über die Corona-Gräben bauen kann.
Wäre es also doch möglich, unter dem Weihnachtsbaum über Politik zu reden? Eine Weihnachtsfeier ist bestimmt kein Ort für den strukturierten Dialog über ein umkämpftes Thema. Aber wenn ein Familienmitglied damit anfängt? Dann können die übrigen nach persönlichen Erfahrungen fragen und zuhören. Sie können versuchen zu verstehen. Sie müssen ja nicht unbedingt einverstanden sein. Vielleicht reicht das schon, um den Weihnachtsfrieden zu bewahren.
Titelbild: frantic00/shutterstock.com
Über die Autorin: Stefanie Intveen engagiert sich seit 2014 in der Friedensbewegung. Sie ist Zertifizierte Mediatorin und lebt in Köln.
[«1] Stefanie Intveen (für die Gesprächsgruppe „Friedensbewegung zusammenbringen“ der Initiative „Sicherheit neu denken“): Friedensbewegung: Wie versöhnen wir uns miteinander? Bericht über eine Dialogreise in das Spaltungsthema „Coronakrise“ 25. November 2024
[«2] Dirk Splinter, Ljubjana Wüstehube: Dialog in nationalen und internationalen Kontexten. In: Mehr Dialog wagen! Eine Ermutigung für Politik, gesellschaftliche Verständigung und internationale Friedensarbeit, hrsg. v. Dirk Splinter, Ljubjana Wüstehube, Frankfurt am Main 2020, S. 72
[«3] Eingesetzt wurde die Methode „Conflict Perspectives Analysis“, die von inmedio peace consult gGmbH, Berlin, entwickelt wurde und hier beschrieben ist: Dirk Splinter, Ljubjana Wuestehube (eds.): Contested Narratives Dialogue. A Methodological Toolkit, 2021, S. 16 f. Download (25. November 2024)
[«4] Alle Namen geändert.