Öffentliche Gebäude sollen zu Bunkern umgebaut und dazu eine spezielle Handy-App entwickelt werden. Die Deutschen sollen sich private Schutzräume und Überlebenspakete zulegen. Die zivile und psychologische Aufrüstung für die „kriegsbereite“ Bevölkerung ist in vollem Gange. Von Leo Ensel.
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Es begann Mitte Februar 2023 mit ausgelassenen Hüpfspielchen in der Unterwelt von Helsinki. Annalena Baerbock geriet ins Schwärmen über die „Stadt unter der Stadt“: „In Sachen Zivilschutz ist Finnland Vorreiter in Europa und Vorbild für uns alle“, tönte sie begeistert. Die unterirdischen Anlagen böten 900.000 Menschen Platz – mehr, als die Stadt Einwohner hat.
Mit ihrem untrüglichen Gespür für Trends erwies sich die deutsche Außenministerin wieder mal als Avantgardistin: Spätestens seit dem unmissverständlichen Postulat von Verteidigungsminister Pistorius, Deutschland müsse kriegstüchtig werden, und dem „Operationsplan Deutschland“ wird hierzulande wieder laut für den – öffentlichen und privaten – Bunkerbau getrommelt.
Handy-App zum nächsten Bunker
Und nicht nur getrommelt: Wie die Onlineplattform Telepolis kürzlich berichtete, erarbeitet das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) gerade einen deutschlandweiten Bunkerschutzplan und prüft, welche öffentlichen Gebäude – U-Bahnhöfe, Behördengebäude etc. – im Bedarfsfalle zu Schutzräumen umgebaut werden können. „Außerdem soll eine spezielle Handy-App entwickelt werden, mit der die Bürgerinnen und Bürger die Entfernung zum nächsten Bunker ermitteln können. Darüber hinaus wolle das BBK die Bevölkerung ermuntern, selbst Schutzräume einzurichten. Keller könnten demnach ebenso geeignet sein wie Garagen.“
Vor ein paar Tagen legte BBK-Vizepräsident René Funk noch einen drauf: Er ermahnte die Menschen in Deutschland, sich grundsätzlich auf Notlagen vorzubereiten. „Jeder deutsche Haushalt“, so Funk, „sollte so gerüstet sein, dass er sich drei Tage lang selbstständig versorgen kann.“ Neben stromunabhängigen Lichtquellen – Kerzen, Streichhölzer und batteriebetriebenen Lampen – empfahl Funk einen Vorrat von 1,5 Litern Wasser pro Tag und Person, „auch für die persönliche Hygiene“, sowie Lebensmittel für 72 Stunden. „Das können Konserven von Lebensmitteln sein, die nicht gekocht werden müssen, Nüsse, Kekse oder Salzstangen.“ Außerdem hilfreich: „Ein batterie- oder kurbelbetriebenes Radio, um sich weiter informieren zu können.“
„Ihr Vorsorgepaket“
Wer den ersten Kalten Krieg noch bewusst erlebt hat, der erlebt einen Flashback um mehr als vier Jahrzehnte. Damals veröffentlichte der Bundesverband für den Selbstschutz eine Broschüre auf Hochglanzpapier „Ihr Vorsorgepaket“. Auf 50 Seiten wurde hier ausführlich über Verhaltensregeln bei Katastrophen, Vorsorgemaßnahmen für den Energieausfall, Lebensmittel-Notgepäck und Dokumentensicherung sowie über das selbstschutzgemäße Haus informiert. Folgende Tips wurden unter anderem auch für den Atomkriegsfall gegeben: Bei Wasserknappheit nur Einweggeschirr und -besteck benutzen; Spielzeug für Kinder, Unterhaltungsspiele und Lektüre im ‚Hausschutzraum‘ bereithalten; nur Lebensmittel bevorraten, die den Essgewohnheiten der Familie entsprechen, sowie Schmierseife zum Abwaschen unbedeckter Hautstellen beim Einsatz chemischer Kampfstoffe verwenden.
Unwillkürlich fragt man sich bei der erneuten Lektüre, ob nicht bald eine aktualisierte Version dieser Broschüre wieder auf den Markt kommen wird – falls das nicht bereits längst Realität ist!
„Wir werden euch nicht helfen können!“
Annalena Baerbock jedenfalls, die ja einen Amtseid abgelegt hat, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden, schlug mit ihrer fröhlichen Bunkerempfehlung gleich zwei Fliegen mit einer Klappe: Nicht nur kurbelte die junge grüne Außenministerin die deutsche Selbstschutzindustrie gewaltig an, sie lieferte zudem das passende Gegenstück zu ihrer Forderung, deutsche Taurus-Marschflugkörper in die Ukraine zu liefern sowie zu der von ihrem Kanzler angekündigten „Nachrüstung 2.0“. Immerhin wäre auf diese Weise die deutsche Bevölkerung ja gegen die von ihrer Regierung provozierten russischen Präventiv- oder Gegenschläge geschützt!
Oder etwa nicht?
Was auch nur ein „atomarer Schlagabtausch“ bereits anrichten könnte, das hat gerade Klaus-Dieter Kolenda von der Initiative „Internationale Ärzte gegen den Atomkrieg“ (IPPNW) im Anschluss an den Mitherausgeber des „Bulletin of the Atomic Scientists“ – es stellte im Januar vergangenen Jahres die sogenannte „Weltuntergangsuhr“ auf 90 Sekunden vor zwölf – Francois Diaz-Maurin ausgeführt. Wer den Mut aufbringt hinzuschauen, der sollte sich diesen Text sehr gründlich durchlesen! Und was dies für die Menschen in sogenannten Schutzbunkern bedeuten würde, das beschrieb der amerikanische Physiker Kewin Lewis bereits Anfang der Achtziger Jahre:
„Wenn Massenfeuer ausbrechen, würde das Problem, im Bunker Überlebensbedingungen aufrechtzuerhalten, unlösbar erschwert. Außerdem wären Kohlenmonoxid und andere toxische Gase, die das Feuer produziert, für die Bunkerinsassen tödlich, es sei denn, es gäbe ein unabhängiges Sauerstoffreservoir. Die Erwärmung der Bunker durch Flammen und heißen Bauschutt, der noch Tage nach dem Löschen des Feuers gefährlich heiß bleiben kann, würde die Bunkerinsassen bei isolierter Atmosphäre gefährden. In Dresden tötete 1945 ein Feuersturm, der durch chemische Bomben entzündet worden war, Zehntausende Menschen. Die Bedrohung durch giftige Gase und Hitze wurde nur von denen überlebt, die die Bunker vor Ausbruch des Feuers verlassen hatten.“
An dieser Stelle drängt sich zwingend die Frage auf: Hat Frau Baerbock in der Unterwelt von Helsinki sich eigentlich mal die Mühe gemacht, sich vorzustellen, wie 900.000 Menschen unter diesen Bedingungen auch nur eine Stunde gemeinsam verbringen würden? Und was geschähe, sollten diese Menschen – gegen alle Wahrscheinlichkeit – tatsächlich doch noch einmal die strahlenverseuchte Trümmerwüste ihrer dem Erdboden gleichgemachten Stadt betreten?
Ein in den Achtzigerjahren der Bevölkerungsmehrheit sehr bekannter Satz brachte es auf den Punkt, und er gilt nach wie vor: „Die Überlebenden werden die Toten beneiden!“ Die heilsam desillusionierende Konsequenz der „Ärzte gegen den Atomkrieg“ lautete: „Wir werden Euch nicht helfen können!“
Für eine „Entspannungspolitik 2.0“
Die heute wieder offensiv angepriesenen Formen des „Selbstschutzes“ – von der Bunker-App bis zum kurbelbetriebenen Radio im privaten Schutzraum – laufen also auf nichts anderes als psychologische Kriegsvorbereitung hinaus. Die Theologin Dorothee Sölle schrieb dazu in einer ähnlichen Situation 1982 (Annalena Baerbock war gerade zwei Jahre auf der Welt): „Es ist ein langsamer Prozess der Gewöhnung, eine tägliche Strahlendosis ins Gehirn, damit wir uns an das Undenkbare gewöhnen und seiner Vorbereitung willig zustimmen.“
Wirkliche Abhilfe, wirklichen Schutz schaffen kann allein die Wiederaufnahme der Diplomatie, die Rekonstruktion des Vertrauens und substanzielle Abrüstung, kurz: eine „Entspannungspolitik 2.0“ mit dem Ziel einer neuen globalen Sicherheitsstruktur nach dem Prinzip der „Gemeinsamen Sicherheit“.
Und zwar nicht irgendwann, sondern so schnell wie möglich!
Mit freundlicher Genehmigung von Globalbridge.
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