Der Tayoune-Kreisverkehr liegt am südlichen Rand der offiziellen Stadtgrenze von Beirut. Doch das Beiruter Leben reicht weit darüber hinaus. Südöstlich des Kreisverkehrs liegt Ain el Rommaneh, südlich schließt sich Chiyah an und geht im Westen in den Stadtteil Ghobeiri über, der im Westen an einen großen Friedhof grenzt. Der offizielle Stadtplan von Beirut endet hier, nicht aber Beirut, das sich sehr viel weiter in die südlichen Vororte erstreckt. Von Karin Leukefeld aus Beirut.
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Selbst das Zentrum von Beirut – Hamra – blieb von den Angriffen Israels im letzten Krieg nicht verschont, erzählt Maha, Y., die im Familienappartement in Kantari Zuflucht gesucht hatte. Das Viertel liegt nicht weit von der Ruine des Intercontinental Hotels entfernt, das im Bürgerkrieg (1975-1990) zerschossen wurde. Frau Maha leitet den Kindergarten Ghassan Kanafani im Palästinenserlager Mar Elias in Beirut, den die Autorin in den vergangenen Jahren häufig besucht hat.
Neben ihrer Wohnung in Kantari sei eine Schule, in der Hunderte Inlandsvertriebene untergebracht worden seien, erinnert sie sich. „Die schmale Straße war immer belebt, Tag und Nacht waren die Menschen auf den Beinen, niemand kam zur Ruhe.“ Sie berichtet von Angriffen unweit des Parlaments, in Zokak el Blat, in Bachoura und in Basta. Am Rande des Stadtteils Mar Elias seien Häuser zerstört worden und auch in Hamra, das am nordöstlichen Rand von Beirut liegt und von der Corniche, der Küstenpromenade, umgeben ist, sei eine Rakete eingeschlagen. „As Safir wurde getroffen“, berichtet sie. As Safir ist eine der ältesten Zeitungen im Libanon, die vor wenigen Jahren das Erscheinen einstellen musste.
Foto: Karin Leukefeld – Jedes Haus, das zerstört wird, hat im Umkreis bis zu acht weitere Häuser, die durch die Explosion beschädigt oder unbewohnbar gemacht werden.
Die Kindergärten in den Lagern seien weitgehend verschont geblieben, sagt Frau Maha. Lediglich im Lager Rashidiyeh im Süden des Landes, bei Tyros, habe es Schäden am Dach und an den Fenstern gegeben. Sie zeigt Fotos auf ihrem Handy. Teile der Decke sind heruntergefallen, die Fenster bestehen aus dicken Glasbausteinen und weisen starke Risse auf. „Niemand wurde verletzt, alle waren evakuiert worden“, sagt Frau Maha. Doch nun sei es schwierig, die Fenster zu ersetzen. Glas muss importiert werden und der Preis für Glas hat sich – auch wegen der enormen Nachfrage – mit dem Tag der Waffenruhe vervierfacht. Die stabilen Glasbausteine seien derzeit gar nicht zu haben.
Vom Hof ertönt lautes Rufen und Lachen der Kinder im Mar-Elias-Kindergarten Kanafani. „Vor drei Tagen, am vergangenen Montag, haben wir den Kindergarten wieder geöffnet. Die Kinder waren außer sich vor Freude, wieder hier sein zu können,“ sagt Frau Maha und auch ihr ist die Freude anzusehen. Nein, nicht alle Kinder seien zurückgekommen, räumt sie auf Nachfrage ein: „Die syrischen Kinder kamen nicht zurück, sie sind jetzt mit ihren Familien nach Syrien zurückgegangen.“ Und nach einer kurzen Pause fügt sie hinzu: „Mal sehen, ob sie wieder zurückkommen.“
„Einfach klicken und es schießt“
Am nächsten Tag sieht die Autorin selbst bei dem Gebäude der Zeitung As Safir vorbei, das von einer israelischen Rakete getroffen worden sein soll. Heil und unversehrt steht es in der schmalen Sackgasse. Ein Friseur kommt aus seinem Laden und berichtet, dass die israelische Rakete nicht bei As Safir, sondern wenige hundert Meter weiter Richtung Hamra-Straße einschlagen sei. Er sucht auf seinem Handy nach einem Videoclip, der den Angriff dokumentiert. Dann läuft er mit der Autorin vor zur Straße und zeigt ihr das Gebäude, das als „Swiss Bank“ bekannt ist. Es liegt an einer Kreuzung von schmalen Straßen, gegenüber einer Tankstelle. „Nichts ist hier“, sagt der Friseur. „Nur Wohn- und Geschäftshäuser, das weiß jeder.“ Israel seien offenbar die Ziele ausgegangen, die Angriffe hätten nur die Bevölkerung einschüchtern sollen. Auf dem Videoclip ist ein brennendes Geschoss zu sehen, das aus der Straße kommt, die an der Tankstelle vorbeiführt. Kaum eine Sekunde dauert es, dann schlägt es direkt in dem Eingangsbereich des Gebäudes ein. Abgeschossen wurde die Rakete offenbar von einer Drohne, die sich durch die engen Straßen bewegt haben muss, bis sie das eingegebene Ziel auf dem Monitor fand und feuerte.
„Es ist wie ein Spiel“, sagte der Verkäufer der spanischen Firma Everest in einem Interview mit der Autorin vor einigen Jahren auf der IDEX, der größten Waffenmesse der Welt, die alle zwei Jahre in Abu Dhabi stattfindet. Everest sei die einzige Firma auf der Messe, die diese leichten Drohnen anböten. Anders als Beobachtungsdrohnen seien ihre Drohnen „Kampfdrohen“, also bewaffnet, je nachdem, wie die Kunden es haben wollten. Die Drohnen seien für den urbanen Kampf geeignet, den Krieg in Städten, den es in Zukunft immer mehr geben werde. „Leider“, sagt er und zuckt mit den Schultern. Doch das sei ihr Geschäftsmodell. Die Drohnen seien sehr leicht zu handhaben, es sei wie ein Spiel: „Einfach klicken und es schießt.“
Interview zu sehen in der Dokumentation „Was von Kriegen übrig bleibt“:
Tayoune-Kreisverkehr
Unweit des Tayoune-Kreisverkehrs liegt das Geschäft von Walid Shourbaji, einem Import-Export-Händler für Süßwarenrohstoffe. Der Laden liegt im Parterre eines Appartement-Hochhauses, rechts und links sind weitere Geschäfte. Die Nachbarhäuser, in deren oberen Stockwerken ebenfalls Wohnungen waren, sind von israelischen Raketen zu großen Trümmerhaufen zerbombt worden. Sie sei nicht da gewesen, als das passiert sei, sagt Safa Shourbaji, die Tochter des Firmengründers. Sie sitzt hinter einem großen Schreibtisch und gibt bereitwillig Auskunft, Fotos möchte sie nicht. Es habe Warnungen gegeben, daher hätten sie die Gegend verlassen, sagt Frau Shourbaji. Sie wisse nicht, warum die Häuser bombardiert worden seien. „Wir haben hier mit niemandem was zu tun. Wir kommen am Morgen und gehen abends, wir sind nur zur Arbeit hier“, fährt sie fort.
Als ihr Vater die Firma vor 40 Jahren gegründet habe, sei die Gegend kaum bebaut gewesen. Die neu entstandenen Gebiete südlich der Stadtgrenze kenne sie nicht. „Ehrlich gesagt, ich habe mich nie getraut, dorthin zu gehen“, sagt sie, ohne das weiter auszuführen. Der Nachfrage, ob sie Angst vor den Gebieten habe, weicht sie aus und wiederholt: „Wir sprechen mit niemandem, wir haben nur unser Geschäft hier.“ Shourbaji importiert Rohstoffe für Süßwaren, für Bäckereien und Konditoreien, sagt sie, aus Deutschland, Frankreich, Brasilien. Durch die Explosionen sei die Fensterfront zerstört worden. „Wir haben gleich nach der ersten Explosion die Glasfront erneuert, dann kam der zweite Angriff“, sagt sie und lacht bitter. „Das war natürlich teuer, dass wir gleich wieder neue Scheiben einbauen mussten.“ Niemand sei zu Schaden gekommen, das sei das Wichtigste.
Als Kind habe sie den Bürgerkrieg erlebt, damals sei hier die „Grüne Linie“ verlaufen, eine Art Frontlinie zwischen den verfeindeten Seiten. „Ich war ein Kind und alle Lehrer in unserer Schule waren Franzosen. Wir haben Französisch gelernt und gesprochen, alles ist heute anders.“ Der Bürgerkrieg habe sie traumatisiert und alles, was sie wisse, sei, dass „dieses Land mir nie Stabilität gegeben hat.“ Sie empfinde nichts für das Land und stelle sich immer wieder die Frage, ob sie Libanon nicht verlassen sollten. Der Sohn sei in Dubai, sicher werde sie auch die Tochter eines Tages in die Ferne zum Studium schicken. „Alles, was ich will, ist ein friedliches Leben für mich und meine Kinder, für meine Familie.“ Allem anderen gegenüber sei sie wie betäubt. „Vielleicht glauben Sie mir nicht, ich selber verstehe es auch nicht und finde es merkwürdig, doch so ist das.“ Der Geschäftsbetrieb habe unter dem Krieg gelitten. Die Nachfrage sei zurückgegangen, aber „wir können weiterarbeiten und müssen niemanden entlassen. Unser Betrieb ist bekannt, im In- und Ausland, man schätzt uns, weil wir klar und genau arbeiten. Die Kunden wollen zuverlässige Geschäftspartner und das sind wir.“
Ain el Rommaneh
Nur wenige hundert Meter weiter steht an der Straße Richtung Chiyah ein Karren am Straßenrand, der über und über mit Artischocken und Avocados beladen ist. Hinter dem Karren erhebt sich ein mehrstöckiges Bürogebäude, dessen oberste Etage von einem israelischen Raketenangriff zerstört wurde. Neben dem Karren steht ein Mann mit Schirmmütze und knallrotem Pulli. Er heiße Ali, stellt er sich vor, als die Autorin ihn bittet, ein Foto machen zu dürfen. „Ich habe acht Jahre in Deutschland gewohnt und in einem Restaurant gearbeitet“, fügt er dann in Deutsch hinzu und strahlt in die Kamera. Als die Rakete in dem Geschäftshaus eingeschlagen sei, sei er nicht dagewesen: „Die Menschen hier wurden evakuiert, alles war leer.“
Foto: Karin Leukefeld – Der Straßenhänder Ali hat – wie viele Libanesen – auch in Deutschland gearbeitet. Im Hintergrund ein zerstörtes Geschäftshaus.
Östlich der Straße liegt Ain el Rommaneh. Das zerstörte Dach des Geschäftsgebäudes ist wie ein Kartenhaus zusammengefallen, ein Teil der Trümmer ragt über die Außenmauer des Gebäudes auf die Straße hinaus. Bizarr erhebt sich darüber ein Aufbau mit Sonnenkollektoren und Wassertanks unbeschädigt in den Himmel.
Vor dem Gebäude spricht eine Gruppe Techniker mit den Ladeninhabern. Es werden Namen und Daten aufgenommen, der ungefähre Schaden notiert und welche Zerstörungen es im Einzelnen gibt. Keiner der Läden im Parterre hat noch Fenster. Die Besitzer haben einfach die Gitter heruntergelassen, die normalerweise nachts die Läden schützen sollen. Einige der zerstörten Fronten sind mit gelbem Band abgesperrt. Der Schönheitssalon von Bilal Harb ist in den leerstehenden Nebenraum umgezogen. Wo einst Glasfenster waren, ist Plastikplane gespannt.
Foto: Karin Leukefeld – Ende eines Familienprojekts. Der Innenraum des Café Kayan ist mit Glassplittern übersät.
Ein Mann tritt aus einem der Läden und fragt Hamza, den Begleiter der Autorin, auf Arabisch: „Was will sie?“ Hamza erklärt und der Mann fragt, ob sie einen Ausweis habe. Genau studiert er dann das Schreiben des Informationsministeriums und sagt schließlich in bestem Englisch: „Kommen Sie mit, ich zeige Ihnen etwas“. Er geht voraus um die Hausecke und weist auf ein Schild. „Café Kayan“ ist darauf zu lesen. Die Außenanlage ist teilweise zerstört. Der Zaun steht zusammengefaltet und mit einer Lichterkette geschmückt gegen einen Pfahl gelehnt. Das Gitter vor dem Café ist heruntergelassen, das Innere des Cafés ist mit Glassplittern übersät. Die Teeküche, die Tische und Stühle, die liebevoll gefertigte Dekoration, alles ist mit Staub, Glassplittern und Steinen bedeckt. Der Mann, der sich als Osama Hassan vorstellt, sagt, er habe das Café einen Monat vor dem Krieg eröffnet. Seine Töchter hätten ihm geholfen, es sei wie ein „Familienprojekt“ gewesen. Er habe das Café in der Nähe der Töchter eröffnet, um nah bei seinen Enkelkindern zu sein. Er selber sei als Kind in England aufgewachsen und habe später 30 Jahre in den Golfstaaten gearbeitet. Mit dem Café habe er sich zur Ruhe setzen wollen, nachdem er sein ganzes Leben gearbeitet habe, damit es der Familie gut gehe.
Nun habe er sein Auto verkaufen müssen, um die Familie zu unterstützen, die in den Bergen eine Unterkunft gefunden habe. Er habe Unterstützung beantragt, um das Café zu reparieren, aber auch ihre Wohnung in Dakhiye in den südlichen Vororten sei zerstört. „Mein Vater kommt aus Khiam im Südlibanon, unser Elternhaus ist zerstört. Meine Mutter ist aus Burj Brajneh, das auch schwer bombardiert wurde.“
Foto: Karin Leukefeld – Der Auszug zeigt das zerstörte Dach eines Geschäftshauses in Ain el Rommaneh.
Die Hisbollah hat der Bevölkerung Ausgleichszahlungen für ihre Verluste zugesagt. Auch Osama Hassan hat sich dafür registrieren lassen. Wer eine Mietwohnung in Beirut hatte, die zerstört wurde, erhält 6.000 US-Dollar, was etwa einer Jahresmiete in Beirut entspricht. Dazu gibt es 8.000 US-Dollar für die Einrichtung. Wer auf dem Land in einer Mietwohnung lebte, erhält 4.000 US-Dollar und ebenfalls 8.000 USD für Möbel. Wer ein eigenes Haus besitzt, das zerstört oder beschädigt wurde, muss die Rechnungen für Reparaturarbeiten vorlegen, die ihm dann ersetzt werden.
Osama Hassan wirkt bedrückt. In einem Krieg müsse unterschieden werden zwischen Zivilisten und bewaffneten Soldaten. Hier lebten nur Zivilisten, hier gäbe es weder Waffendepots noch Kommandozentralen. Der Krieg sei ein Geschäft für die Waffenhändler. „Wir sterben und sie investieren mit ihrem Geld in Land und Grundbesitz.“ Für ihn sei die Lage hoffnungslos, sagt er: „Alle Türen sind geschlossen, alles ist tot.“ Es sei, als würden sie nicht als Menschen betrachtet, die ein Recht auf Leben hätten. „Wir wollen in Ruhe leben, unsere Kinder erziehen und ihnen eine gute Ausbildung geben, das ist alles“, sagt er. Die Libanesen lebten seit Jahren ohne Präsident und ohne eine Regierung, aber sie lebten und arbeiteten. „Wir freuen uns über das Leben, wir reisen, wir investieren, wir machen Geschäfte. Immer denken wir an die Zukunft, an unsere Kinder, die es einmal besser haben sollen. Wir lieben unser Land.“
Alle Bilder: © Karin Leukefeld