Toxische Atmosphäre

Geschrieben am 18.09.2024
von Redaktion

Die Ergebnisse der Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen, die anstehende Wahl in Brandenburg und die Bundestagswahl im Jahr 2025 offenbaren neue Tiefpunkte des menschlichen Vermögens, Andersdenkende und alternative politische Vorstellungen zu diffamieren. Von Alexander Neu.

Statt innezuhalten und ehrlich zu reflektieren – und zwar nicht nur, was schiefläuft, sondern auch, warum die Distanz zwischen der politischen Klasse und wachsenden Teilen der Bevölkerung zunimmt, so wie es der ehemalige Bundespräsident Christian Wulff jüngst in einem Interview forderte –, wird die von Teilen der Gesellschaft abgelehnte Politik unverdrossen fortgesetzt. Auch die CDU, obschon in Umfragen und Wahlergebnissen noch gut dastehend, stellt keine ernst zu nehmende inhaltliche Opposition zur Ampelpolitik dar. Die Schuldfrage für die sichtbar abnehmende Zustimmung zu den Parteien „der Mitte“ wird auf den Wähler abgewälzt.

Die Parteien, die sich als demokratische Parteien, als Parteien der Mitte, und ihre Anhänger verstehen, scheinen angesichts der Wahlergebnisse nicht nur in Panik zu verfallen, sondern zum Gefecht auch unter der Gürtellinie anzutreten. So äußerte sich jüngst Toni Hofreiter von den Grünen auf X:

„Ich glaube, man muss sich im Klaren sein, dass Wagenknecht (…) die schlimmste Propagandistin des Kriegsverbrechers Putin ist und damit ihm immer wieder ermöglicht, diesen Krieg fortzusetzen. Damit ist sie im Grunde de facto eine der schlimmsten Kriegstreiberinnen, die wir im Land haben.“

Das CSU-Vorstandsmitglied Bernd Posselt verunglimpfte Sahra Wagenknecht laut BR24 als „friedensgefährdende Chefpropagandistin Wladimir Putins” und „menschgewordener Hitler-Stalin-Pakt”. Die skrupellose Verwendung von Faschismusanalogien und somit Faschismusrelativierungen in Krisenzeiten ist kein Novum, sondern eine gern verwendete Stilform niveauloser politischer Auseinandersetzungen.

Auch jenseits der unmittelbaren Parteipolitik, d.h. aus der Zivilgesellschaft und von Sozialwissenschaftlern, ertönen schrille Töne. Wissenschaftler, die sich als ideologische Aktivisten hervortun, erweisen ihrer Fachrichtung einen Bärendienst. Ich möchte im Folgenden beispielhaft auf einen Tweet auf der Plattform X des Historikers und Publizisten Ilko-Sascha Kowalczuk vom 30. August eingehen:

„Das Erschreckende an diesem Lügen-Video der Lügen-Sahra ist eigentlich nicht nur ihre Russenknechtschaft – ich frage mich, wer ihr diese Kita-Rhetorik beibrachte. Das müsste doch sogar ihre Fans irrtieren! [sic].”

Er bezieht sich damit auf ein Video Wagenknechts, in dem sie den Bundeskanzler Olaf Scholz ihrerseits der Lüge bezichtigt. Gegenstand der Lügenunterstellung gegen Scholz ist seine Argumentation für die geplante Stationierung von US-Mittelstreckenraketen in Deutschland, die er am Rande des NATO-Gipfels kürzlich mit dem US-Präsidenten J. Biden beschlossen hatte.

Scholz äußert:

„Wir alle, (…) bedauern sehr, dass Russland sich so intensiv, so massiv über all die Rüstungskontrollvereinbarungen der letzten Jahrzehnte hinweggesetzt hat und aus der Politik der Rüstungskontrolle ausgestiegen ist.“

Wagenknecht fragt in ihrem Video, ob dies so stimme, und kommt zu einem völlig anderen Ergebnis, indem sie die verschiedenen Rüstungskontroll- und Abrüstungsverträge, die aufgekündigt wurden, in Erinnerung ruft. Kowalczuk wiederum bezichtigt Wagenknecht hinsichtlich ihrer Darstellung der Lüge.

Es geht in dem Video Wagenknechts um folgende Rüstungskontroll- und Abrüstungsverträge:

  1. Der ABM-Vertrag (Anti-Ballistic-Missile-Vertrag), vereinbart zwischen den USA und der damaligen UdSSR, trat 1972 in Kraft. Er war von unbegrenzter Dauer, aber einseitig kündbar. Dieser völkerrechtliche Vertrag begrenzte die Anzahl anti-ballistischer Raketensysteme und war für die strategische Stabilität zwischen den beiden Supermächten von hoher Relevanz. Da die USA jedoch in den 1990er-Jahren den Vertrag für ihre Sicherheit als nicht mehr nützlich sahen und sie in Europa ein neues Raketenabwehrsystem installieren wollten, kündigten sie 2001 im Rahmen der sechsmonatigen Kündigungsfrist einseitig diesen wichtigen Pfeiler der Rüstungsarchitektur (Quelle: „Wörterbuch zur Sicherheitspolitik“, Mittler-Verlag [diesem Verlag ist sicherlich keine Russlandnähe zu unterstellen]).

    Viele Jahre später stationierten die USA dann tatsächlich Raketenabwehrsysteme in Polen und Rumänien, wodurch die strategische Stabilität außer Kraft gesetzt wurde. Seinerzeit hieß es, die Raketenabwehrsysteme richteten sich nicht gegen Russland, sondern gegen „Schurkenstaaten“.

  2. Der 1992 in Kraft getretene KSE-Vertrag (Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa) regelte die Obergrenzen an entsprechenden Großwaffensystemen. Er galt als das umfassendste und wichtigste Regelwerk bei der Begrenzung konventioneller Waffensysteme. 1999 wurde er aufgrund gravierender geopolitischer Veränderungen angepasst (adaptiert) und als A-KSE bezeichnet. Dieser wurde 1999 von den Teilnehmerstaaten unterzeichnet. Ratifiziert wurde er jedoch nur von vier post-sowjetischen Staaten, darunter Russland im Jahr 2004. Die NATO-Staaten ratifizierten den Vertrag nicht. Als Begründung wurde angegeben, Russland müsse erst seine zwei militärischen Standorte in Georgien und Moldawien aufgeben („Istanbul-Commitments“). Jedoch sind diese „Verpflichtungen“ kein Bestandteil des A-KSE-Vertrages. Sie wurden vielmehr nachträglich und einseitig durch die NATO als weitere Verpflichtung Russlands deklariert. Dieses zwischen den NATO-Staaten und Russland nicht ausgehandelte, sondern einseitig geschaffene Junktim wurde von Russland zurückgewiesen. Da die NATO-Staaten somit den A-KSE-Vertrag nicht ratifizierten, Russland aber schon, entstand eine einseitige Verpflichtung Russlands, was auf Dauer für Russland nicht akzeptabel war. 2007 setzte Russland entsprechend seine Vertragsverpflichtungen außer Kraft. Und 2023 kündigte Russland schließlich diesen Vertrag, dem die westlichen Staaten gar nicht erst beigetreten waren.
  3. Der INF-Vertrag sah die Vernichtung sämtlicher atomar bestückbarer Mittelstreckenraketen in Europa vor. Die Definition für Mittelstreckenraketen umfasst die Flugreichweite von 500 bis 5.000 Kilometer. Die von Russland produzierten Iskander-Raketen sollten laut russischer Seite eine maximale Flugreichweite von knapp unter 500 Kilometer haben, wären mithin also atomar bestückbare Kurzstreckensysteme. Die USA bezweifelten diese kurze Reichweite und drohten mit dem Ausstieg aus dem INF-Vertrag. Russland seinerseits bot die Inspektion dieses Waffentyps an, um das Gegenteil zu beweisen – auch gegenüber Deutschland. Die damalige deutsche Regierung lehnte das russische Inspektionsangebot ab. Auf meine Frage, warum die Bundesregierung dies ablehne, um doch einen Beitrag zur Rettung dieses INF-Vertrages zu leisten, erhielt ich die lapidare Antwort, es sei ein bilateraler Vertrag zwischen den USA und Russland. Deutschland könne sich da nicht einmischen. Also, Europa und Deutschland haben bei der Gestaltung europäischer Sicherheit kein Mitspracherecht, so die faktische Aussage. Somit stiegen die USA 2019 auf der Grundlage von Plausibilität, nicht aber auf der Grundlage von eindeutigen Beweisen, da sie ja das Überprüfungsangebot der Russen ablehnten, aus dem Vertrag aus. Interessant ist, dass die USA kurz darauf tatsächlich mit der Produktion von Mittelstreckenraketen begannen. Das könnte bedeuten, dass die Entwicklungsarbeiten hierfür schon vor der Kündigung des Vertrages stattgefunden haben könnten.
  4. Der Open-Skies-Vertrag trat 1992 in Kraft und soll eine weitgehende Transparenz hinsichtlich der stationierten Großwaffensysteme (Kontrolle der Einhaltung von Rüstungskontrollvereinbarungen) und militärischer Aktivitäten durch das Überfliegen des gesamten OSZE-Raumes bieten. Zuerst schränkten Russland, dann später die USA nachträglich Kontrollräume ein. Den Vertrag verlassen haben tatsächlich die USA 2020. Die Stiftung Wissenschaft und Politik stellt hierzu in einem Beitrag fest: „(…) Damit würde Präsident Trump den Rückzug der USA aus der regelbasierten Sicherheitsordnung fortsetzen und eine weitere Bresche in die Rüstungskontrollarchitektur schlagen. (…) Der OH-Vertrag, so das Weiße Haus, habe keinen strategischen Nutzen mehr für die USA (…)“.

Es bleibt festzuhalten: Die Unterstellungen, Wagenknecht hätte in ihrem Video gelogen, sind faktisch falsch. Auf meine Bitte an Kowalczuk, er möge doch die unterstellten Lügen auch beweisen, erhielt ich zunächst keine inhaltlich-thematische Antwort. Auch auf meine Nachfrage wenige Tage später reagierte Kowalczuk nicht inhaltlich.

Man kann für oder gegen das BSW, die Grünen, die SPD, die FDP, die Union etc. sein. Das ist Demokratie. Man sollte sich aber davor hüten, das gesellschaftliche und politische Klima zu vergiften. Und erst recht darf man keine offensichtlichen Unwahrheiten verbreiten. Dies gilt umso mehr für Menschen, die über einen wissenschaftlichen Hintergrund verfügen. Als Historiker müssten Kowalczuk Quellenanalyse und Fachliteratur als grundlegende Instrumente des wissenschaftlichen Arbeitens bekannt sein. Und auch wenn er in dem Moment nicht als Historiker auftritt, sondern als Aktivist, sollte er faktenfest argumentieren. Alles andere trägt zur Herausbildung einer Fake-News-Gesellschaft bei, die die Gesellschaft weiter fraktioniert.

Alexander S. Neu, Jahrgang 1969, ist promovierter Politikwissenschaftler. Praktische politische Erfahrungen sammelte er als Mitarbeiter der OSZE im ehemaligen Jugoslawien. Von 2013 bis 2021 war er Mitglied der Bundestagsfraktion der Linken und deren Obmann im Verteidigungsausschuss und stellvertretend im Auswärtigen Ausschuss sowie Mitglied der Parlamentarischen Versammlung der NATO. Zuvor war er acht Jahre Referent für Sicherheitspolitik der Fraktion.

Titelbild: Screenshot von @IlkoKowalczuk